Woher die Kraft zum Wandel kommt
Autor:
Martin Rafael Steiner
Was mir die Klimademonstration am 20.9.19 in Bern bewusst gemacht hat: Wut und Kampf allein werden keine grundlegende Veränderung herbeiführen. In der Stille liegt eine ungeheure Macht. Schweiz in Stille – was könnte damit gemeint sein?
Die Macht der Entschlossenheit
Ich war beeindruckt von der Buntheit und Lebendigkeit der Menschen, die an jenem Samstagmittag auf den Bundesplatz in Bern strömten. Ich war beeindruckt von der Klarheit der Botschaft «Wir wollen keine Zerstörung unseres Planeten, unserer Lebensgrundlagen». Die Wut, die lauten Stimmen taten so gut, Klartext, Energie, die vorwärtsstrebt: So nicht! Dahin wollen wir! Je länger das ging und je mehr Redner*innen in dieses Horn stiessen, je wilder sie riefen, umso mehr spürte ich die aufkommende Erschöpfung unter dem lauten Widerstand. Da kam das «StimmVolk» auf die Bühne, 20 Frauen und Männer rund um Karin Jana Beck, und setzten ihre Instrumente und Stimmen ein. Eine andere Schwingung breitete sich unvermittelt aus. Etwas in mir atmete auf. Auch rundum spürte ich die Wellen, die das gemeinsame Singen auslöste: kein Kampf mehr, aber eine ungeheure Kraft von tief innen. Es braucht beides: Entschlossenheit und Stille, Klartext und Horchen. Ich stelle mir vor, es würde für einen Moment still auf dem Bundesplatz mit den Zigtausenden von Menschen, weil sie jemand auf eine sehr einfache, authentische, unspektakuläre Art einlädt innezuhalten, nach innen zu horchen... Welche Kraft würde sich aus der Stille heraus entfalten? Welche Stimmen, welche Stimmung würden hörbar?
Die Kraft der Stille
Es gibt Meditationsgruppen, die sich unter dem Stichwort «meditation for future» treffen, um Aktivisten in ihrem Engagement von «unten her» zu unterstützen. In einem sehr verfahrenen Konflikt zwischen Volksgruppen lud man einmal Mönche ein, unter dem Verhandlungstisch zu meditieren.
Die Verhandlungspartner wussten nichts davon. Die Verhandlungen kamen wieder in Gang. Ich kann nicht belegen, wo es sich genau zugetragen hat. Nur schon das Bild inspiriert mich: sitzen unter dem Verhandlungstisch. Stille ist nicht ein Faktor, der linear wirkt: Das ist der Input, das ist der Output. Stille ist eine ganz andere Dimension. Während unsere Gedanken Inhalte sind, ist Stille der Raum, in dem sie auftauchen. Im Bemerken der Stille wird das Bewusstsein still, durchschaut das Geschehen als Bewegungen, die aus dem Bewusstsein entspringen. Es ist ein Gang an die Quelle. Es ist eine Einkehr beim Nullpunkt, von dem alles ausgeht. Ich erlebe die Kraft der Stille mit 15-jährigen Gymnasiast*innen, eine Altersgruppe, die nicht gerade für ihre Liebe zu Stille und Meditation bekannt ist. Welche Wirkung es hat, wenn es in der Klasse ohne Druck und Aufgaben zwei Minuten still ist, einfach mal still! Und diese wohltuende Wirkung vervielfacht sich, wenn ein Grossteil der Schüler nicht nur völlig ruhig ist, sondern mit der Aufmerksamkeit nach innen geht, die Welt rundum mal sein lässt und sich im eigenen Da-Sein spürt.
Welle oder Wandlung?
Achtsamkeit hat viele Bereiche erfasst und kommt uns auf allen möglichen Kanälen entgegen: Schulen, Kliniken, Management, Medien. Das ist in dieser Dichte und Breite neu. Ob es eine einzelne Welle bleibt oder aber eine tiefe Wandlung unseres Bewusstseins bewirken wird, wird sich zeigen. Ich hoffe und arbeite für das zweite, die Transformation. Stille ist eine grosse verwandelnde Kraft. Genau dort, wo man den Punkt berührt, der nichts will, entstehen Impulse, die Universen hervorbringen. Jetzt in diesem Moment, während du das liest, kann eine kleine Wendung deines Schauens und Horchens nach innen dein Wahrnehmen, dein Bewusstsein verändern, weil der Kontakt mit der Weite und Tiefe der Wirklichkeit intensiviert wird. Wenn schon ein tiefer Atemzug, den ich vom Anfang bis zum Ende spüre, so eine beruhigende und öffnende Wirkung haben kann, wie viel mehr ein Abend, an dem man gemeinsam still wird und horcht. schweiz-in-stille.ch ist ein Portal, das Zugang zu den verschiedensten Angeboten rund um Stille und Meditation bietet, aus allen Traditionen und in allen Formen, in vielen Städten der Schweiz. In der Stille berührt sich die spirituelle Suche so vieler verschiedener Menschen.
Nicht dickes Fell, sondern dicke Leitungen
Wir leben in einer Epoche voller Spannungen. Die Nachrichten werfen uns regelrecht um, lähmen uns, wir müssen abschalten, spüren nicht mehr, Sicherungen brennen durch. Ganz anders, wenn wir Räume und Felder bilden, in denen wir gemeinsam hören, in denen wir uns in unserer Verletzlichkeit zeigen können und die Erschütterungen, die durch die Gesellschaft gehen, gemeinsam halten. Statt zu erstarren, kommen wir in Bewegung. Neue Dialogformen entstehen.
Thomas Steiniger und sein Team der Zeitschrift und des Radios «Evolve» zeigen, wie anders das Gespräch verläuft, wenn man mehr an dem interessiert ist, was man noch nicht weiss, statt das Bekannte zu wiederholen. Nicht Austausch von Standpunkten, sondern gemeinsames Forschen aus dem Horchen, aus der Stille heraus. Achtsamkeit ist nicht Selbstoptimierung, um noch besser funktionieren zu können. Stille lässt den Staub sich legen – der Blick wird klar für das, was ist, für das, was die Not wendet.
Achtsame Schulen
Der Verein Achtsame Schulen Schweiz setzt sich aktiv für die Einführung der Achtsamkeitspraxis in Schulen ein. Er entwickelt dazu MoMento, ein umfassendes Achtsamkeitsprogramm für sozio-emotionales Lernen in der gesamten Schulgemeinschaft. Überfachliche Kompetenzen wie Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, Beziehungsfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit stehen dabei im Zentrum, genauso wie das Schaffen eines positiven Schulklimas, welches die Kinder in ihrer Entwicklung zu einer gesunden, eigenständigen und verantwortungsvollen Persönlichkeit unterstützt.