Von der Selbstbereicherung zur Erfüllung

 
 
Autor:
Jürg Theiler
 
 
 

So wie die Menschen sind, so organisieren sie sich

So wie die Menschen sind, so führen sie und lassen sich führen. So integral oder gespalten, so bewusst oder unbewusst wie die Menschen sind, so organisieren sie sich, so führen sie und lassen sich führen. So wie ihre Kultur ist, so ist ihre Politik. Integrale, bewusste Menschen organisieren sich in einer integralen, bewussten Wirtschaft und Gesellschaft. Nicht-integrale, unbewusste, gespaltene Menschen organisieren sich in einer nicht integralen, unbewussten und gespaltenen Wirtschaft und Gesellschaft. Um zu wissen, was eine bewusste Wirtschaft und Gesellschaft bedeutet, ist es erforderlich zu wissen, was ein bewusster, ganzer, heiler, gesunder Mensch ist. In der Sprache von Ken Wilber ist ein integraler Mensch jemand, bei dem das Ich und das Wir sowie das Innen und das Aussen in Übereinstimmung sind. Um zu verstehen, wie das möglich werden kann, ist es notwendig, präzise zu wissen, was das Ich und das Wir sowie das Innen und das Aussen sind und wie sie zusammen funktionieren.

Die Instinkte organisieren autokratisch-kompetitiv

Am einfachsten und schnellsten ist das Ich zu verstehen. Deshalb beginnen wir damit. In der Sprache von Abraham Maslow ist der Mensch in seinem Ich ein unaufhörlich wollendes Tier. Sein Organisationsprinzip ist autokratisch-kompetitiv. Jeder Mensch kämpft für sich, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Jeder will gewinnen. Jeder will besser sein als der andere. Jeder will Besitz und Konsum, Lust und Genuss, Sieg und Triumph, Bequemlichkeit und Spass, Erfolg und Macht, Bewunderung, Anerkennung und Belohnung haben. The winner takes it all. Die Instinkte nehmen, was sie brauchen, wenn nötig mit Gewalt (power).

Die Gefühle organisieren hierarchisch-autoritär

Das Wir ist komplizierter zu verstehen, weil es sich aus zwei unterschiedlichen Quellen speist. Die eine Quelle sind die Gefühle (Emotionen, Affekte). Die Menschen als unaufhörlich wollende Tiere organisieren sich in Familien, Sippen, Gruppen, Gemeinschaften, Organisationen (Vereine, Verbände, Unternehmen, Staaten). Sie organisieren sich, um das Privileg der Paarung und die Aufzucht des Nachwuchses zu regeln. Sie organisieren sich, um den Besitz und den Konsum der Ressourcen zu regeln, allen voran das Territorium, gefolgt von allen anderen Mitteln, wie Kapital (Geld als Tauschmittel), Boden (Territorium, Grundbesitz, Bodenschätze und Immobilien), Arbeitskräfte, Technologie, Infrastruktur, Know-how (Wissenschaft und Bildung, Kunst, Kreativität), Familie, Sicherheit (Rechtsordnung, Armee und Polizei) und Religion. Emotionen sind Mittel zur Selbstorganisation der Menschen in der Gruppe. Dazu gehören das Gefühl der Angst und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zur Gruppe: der Patriotismus, der Nationalismus, der Chauvinismus, der Nepotismus und weitere. Dazu gehören die Bedürfnisse nach Sicherheit, nach Dominanz und Unterwerfung. Dazu gehören das Pflichtgefühl, das Verantwortungsgefühl, die Zuverlässigkeit, die Geschäftigkeit, der Fleiss, der haushälterische Umgang mit den Ressourcen, der Ehrgeiz, die Eitelkeit, das Misstrauen, die Missgunst, die Vorsorge, die Fürsorge und andere. Die Gefühle verstärken und korrigieren die Instinkte. Das Organisationsprinzip ist hierarchisch-autoritär. Jeder kämpft, tauscht und täuscht in der Gruppe, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. In Anlehnung an Maslow sind die Menschen nun unaufhörlich tauschende und täuschende, zänkische und sentimentale, schwärmerische, selbstgerechte und selbstmitleidige (Säuge-)Tiere (Primaten) geworden. In der hierarchisch-autoritär organisierten Gruppe streiten sie um die Positionen, die entscheiden, welche Bedürfnisse von wem in welchem Ausmass befriedigt werden. Die Gefühle nehmen, was sie wollen, durch Tausch, Täuschung und Zwang.

Die rationalen Kalküle organisieren technokratisch-algorithmisch
Zusätzlich zu den Instinkten und Gefühlen sind Menschen fähig, rational zu denken. Rational bedeutet berechnend. Menschen sind als erkennende Subjekte in der Lage, Objekte von aussen, aus der Distanz, unbeteiligt, zu betrachten. Durch wiederholte Beobachtung können sie Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge erkennen und diese als Mittel-Ziel-Zusammenhänge manipulieren, optimieren und kontrollieren. In der Umgangssprache wird diese Fähigkeit als Vernunft (Kognition) bezeichnet. Sie erkennt nur jene Teilzusammenhänge, die sie von aussen sehen, messen und experimentell beliebig oft wiederholen kann. Sie erkennt nur quantitativ. Sie erkennt nicht die Qualität der Ziele. Sie kann nicht beurteilen, ob sie richtig oder falsch sind. Die Vernunft ist eine Söldnerin. Sie lässt sich die Ziele vorgeben und variiert, kalkuliert und optimiert darauf die Mittel mechanisch-technisch. Die Ziele setzen unbewusst und automatisch die Instinkte und die Gefühle, das Ich und das von den Gefühlen organisierte Wir, der Auftraggeber und die Gruppe. Das Organisationsprinzip ist technokratisch-algorithmisch. Alle Objekte, alle Menschen und Ressourcen, sind austauschbare Mittel zum Ziel. Die rationalen Kalküle erreichen die Ziele durch Manipulation und Kontrolle.

Der Markt organisiert die Selbstbereicherung

Die Instinkte, die Gefühle und die rationale Vernunft sind nach aussen gerichtet. Sie organisieren die Aussenwelt nach ihren (Teil-)Wünschen (Bedürfnissen, Motiven, Zielen). Sie organisieren sie im Rahmen dessen, was sie sehen, in die Hände nehmen (hören, riechen, schmecken, berühren, empfinden), fühlen und messen, manipulieren und kontrollieren können. Sie interagieren und organisieren sich über den Markt, zu dem die Demokratie gehört. Der Markt beruht auf der Maxime der Selbstbereicherung: auf der unaufhörlichen, weil unersättlichen Aneignung von Besitz und Konsum auf der Grundlage des Besitzes und der Verteilung der Ressourcen, auf dem Ich und dem von den Gefühlen und dem rationalen Kalkül organisierten Wir, auf der Orientierung nach aussen, auf den unbewusst und automatisch agierenden Wünschen und Funktionen des Instinktes, der Gefühle und der Vernunft, auf der Gewalt, dem Zwang und der Manipulation und Kontrolle. Auf dem Markt und in der Demokratie kann vordergründig jeder kaufen und verkaufen, tun und lassen, was er will. In der Markt-Demokratie bereichern sich die Besitzer der Ressourcen an den Nicht-Besitzern, die Mehr-Besitzenden an den Weniger-Besitzenden, die Unabhängigen an den Abhängigen, die Mächtigen an den Machtlosen. In der Markt-Gesellschaft herrschen die Instinkte, die Gefühle und das rationale Kalkül in deren Diensten. Sie zerstören das Leben, sich selbst, unbewusst und automatisch.

Die Seele organisiert rezeptiv-bewusst

Die Informationen der Seele sind unsichtbar. Sie sind geistig, gedacht. Sie sind die zweite Quelle, die das Wir speist. Ihre Informationen sind nicht in der Aussenwelt, sondern in der Innenwelt der Psyche, des Lebens, zu finden. Sie sind nicht quantitativ, sondern qualitativ. Sie sind nicht partikulär, für den einzelnen Menschen subjektiv und relativ relevant oder nicht relevant. Sie sind nicht zufällig und willkürlich. Sie sind nicht wählbar und austauschbar. Sie sind universell. Sie sind absolut und ewig. Sie gelten für alle Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten. Sie sind schon gedacht. Sie sind von den Menschen nicht neu zu erfinden und zu konstruieren. Sie sind nicht zu meinen, zu glauben, zu erhoffen, zu wollen und durch das aktive und selbstermächtigte Handeln der Instinkte, der Gefühle und des rationalen Kalküls zu gewinnen. Sie sind allein zu empfangen. Dafür ist die Seele mit den Informationen der Liebe, der Schönheit, der Wahrheit und des Leidens, der Sanftheit, der Bescheidenheit, der Berührtheit und der Bewusstheit ausgestattet. Ihre Wünsche und Funktionen sind das Gegenteil, der Gegensatz, zu jenen der Instinkte, Gefühle und Kalküle. Sie allein sind in der Lage, diese zu verbinden und so zu verwandeln, dass sie in Übereinstimmung mit dem ganzen System der Psyche, des Lebens, sind. Sie allein sind in der Lage, die Gegensätze aufzulösen.

Das Organisationsprinzip der Seele ist nicht aktiv, sondern rezeptiv. Es ist nicht autokratisch und/oder hierarchisch-autoritär und/oder technokratisch, sondern bewusst. Seine Sichtweise ist nicht partikulär, sondern universell. Die Seele meint, glaubt, hofft, will, muss und handelt nicht selbstermächtigt, sondern sie erfüllt. Sie betrachtet die ungleichen Menschen nicht als ungleichwertig, sondern als gleichwertig. Sie versucht nicht, sich an andern zu bereichern. Sie dient dem Leben.

Die Auflösung der Gegensätze in sich selbst
Nur unter Führung der Seele ist es möglich, alle Teile der Psyche, des Lebens, zum ganzen System wieder richtig zusammenzusetzen – re-lego. Das erfordert von jedem Menschen, dass er die Ressourcen, die ihm zur Verfügung stehen, umverteilt, von den Wünschen und Funktionen der Instinkte, der Gefühle und des rationalen Kalküls auf jene seiner Seele, von der Aussenwelt auf die Innenwelt, von der Aktion auf die Rezeption.

 
 
Das ist der entscheidende Wandel: Sie führen sich und andere von der Selbstbereicherung zur Erfüllung des Lebens.


Das bedeutet für die Integrale Wirtschaft:

  1. Die Menschen leben und arbeiten nicht, um sich zu bereichern, sondern um ihr Leben zu erkennen und zu erfüllen.

  2. Die Menschen leben und arbeiten nicht, um mehr zu besitzen und zu konsumieren, als für das Erkennen und Erfüllen ihres Lebens notwendig ist.

  3. Die unterschiedlichen Menschen sehen und behandeln sich gleichwertig.

  4. Sie lösen den Markt als Interaktions- und Organisationssystem in der Gesellschaft kontinuierlich auf.

  5. Sie belohnen die unterschiedlichen Menschen für die unterschiedliche Arbeit gleichwertig.

  6. Sie lösen die Privilegien, den Besitz und den Konsum, die sich die Intelligenzsysteme im Aktionsmodus aneignen, im Rahmen der gewonnenen Bewusstheit und Organisierbarkeit kontinuierlich auf.

Das bedeutet für die Integrale Politik:

  1. Die Menschen beginnen mit der Auflösung der Gegensätze in sich selbst.

  2. Sie verteilen ihre Ressourcen zuerst bei sich selbst um: von der Aussenwelt auf die Innenwelt, von der Aktion auf die Rezeption, von der Unbewusstheit auf die Bewusstheit.

  3. Sie wenden sich aktiv nach aussen in dem Masse, wie es ihnen gelingt, bewusst, integral, ganz, zu sein.

  4. Sie setzen ihre Ressourcen ein, um anderen Menschen zu helfen, bewusst, integral, ganz, heil, gesund zu werden und zu sein.

  5. Sie beginnen dort, wo sie sind, bei ihrer Ausgangslage. Sie beginnen dort, wo ihre Ressourcen, Talente und Fähigkeiten sind: in der Politik, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft und Bildung, in der Familie, Beziehung, Gruppe, in der Religion. Die Menschen, gleich wie alle Lebensbereiche, sind nicht zu trennen, nicht zu fragmentieren, nicht zu spalten. In allen Bereichen der Gesellschaft tun sie dasselbe: Sie lehren und lernen Bewusstheit. Sie finden zurück zur Einheit der Sprache, zur Einheit der Theorie. Diese ist analytisch-hermeneutische Psychologie – psyche, Leben, und logos, System. Diese beobachtet und erkennt das Leben von innen und von aussen und bringt das Erkennen in Übereinstimmung.

  6. Sie verwandeln den Markt und die Demokratie im Rahmen der gewonnenen Bewusstheit und Organisierbarkeit in eine integrale Organisation. Es ist eine Organisation der Bewusstheit. Darin führen die Informationen der Seele: die Liebe, die Schönheit, die Wahrheit und das Leiden an der Zerstörung; die Sanftheit, die Bescheidenheit, die Berührtheit und die Bewusstheit. Darin führen bewusste Menschen unbewusste zur Bewusstheit.

 

 
 

WAS IST ORGANISATION?

Das Wort stammt vom griechischen organon, Werkzeug, und dieses von ergon, Gesamt-Werk, Dienst. Es drückt sich im Gesamt-Ziel, im System-Ziel, aus. Die Organisation dient dem ganzen Leben. Sie erfüllt es.

 
 
 

DIE BEWUSSTE ORGANISATION
Ein Engagement der Stiftung für integrale Friedensförderung

Darin leben und arbeiten die Menschen, um sich zu erkennen und ihr Leben zu erfüllen. Sie sind ungleich, aber gleichwertig. Im Rahmen der gewonnenen Bewusstheit und Organisierbarkeit lösen sie das Meinen, das Glauben, das Hoffen, das Wollen, das Müssen und das selbstermächtigte Handeln, die Kompensationen und Konditionierungen, den Schatten, alle Projektionen und (Ab-)Spaltungen, alle Illusionen und Schwärmereien, alle Spekulationen und Konstruktionen, die Gewalt, den Zwang, den Tausch und die Täuschung, die Manipulation und Kontrolle kontinuierlich auf. Die Produktion, der Konsum und die Mobilität, die Privilegien und der Besitz reduzieren sich auf das Notwendige. Die Menschen begegnen sich in der Universalität des Geistes, im Schon-Gedachten, in der Seele, in der Rezeption, in thea/theos gleich logos. Sie finden sich in der Einheit der Sprache, der Theorie, im universellen System des Lebens.

 

DER AUTOR

Jürg Theiler, Dr. rer. pol., ist Ökonom und Tiefenpsychologe. Er verbindet das geistes-, sozial-, wirtschafts- und naturwissenschaftliche Beobachten. Darin sind Kunst und Religion miteingeschlossen. Er verbindet das Erkennen von innen und von aussen und bringt es in Übereinstimmung. Der Autor war in der Wissenschaft und in der Wirtschaft als Forscher, Lehrer, Manager und Berater tätig. Heute arbeitet er als Begleiter und Berater auf der Grundlage der Analytisch-hermeneutischen Psychologie in Zürich.

Jürg Theiler ist Mitglied des Stiftungsrates.

 
 
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