Bewusstheit

 
 
Jürg Theiler, Dr. rer. pol.,
Ökonom und Tiefenpsychologe
 
Fotografie: Raul Surace

Fotografie: Raul Surace

 

Durch Bewusstheit zur Erfüllung und Heilung. Die Verletzung und die Heilung erfolgen nicht in der Außenwelt, sondern im Innern der Psyche. Das Mittel zur Heilung ist die Wahrheit. Wahrheit bedeutet, das Konstruktive und das Destruktive in sich selbst zu erkennen, sie zu verbinden und das eine durch das andere aufzulösen.

 

“VERTRAUEN IN DIE WAHRHEIT”

“Mein Beitrag zur Friedensförerung ist es, den Weg zum inneren Frieden jedes einzelnen Menschen aufzuzeigen. Ich habe jedoch die Berechtigung und die Kompetenz, zu anderen über Frieden zu sprechen, nur so weit, wie ich mit mir selbst im Frieden bin.”

 

«Jenseits der Erbsenzählerei»

Als Geisteswissenschaftler versteht sich Jürg Theiler per definitionem als spiritueller Mensch. Spiritus heißt Geist, Seele. Dabei kommt er sich – wie er mit einem Schmunzeln erklärt – oft vor wie der Kapitän auf einem sinkenden Schiff. «Die Geisteswissenschaften werden zu- nehmend an den Rand gedrängt, Lehrstühle werden abgebaut, ein geisteswissenschaftlicher Zugang zu Themen wie etwa Ökonomie gilt oft als suspekt.» Das Primat liege bei naturwissenschaftlichen, verhaltenswissenschaftlichen, behavioristischen Betrachtungsweisen. «Unser gesamtes Bildungswesen wird zunehmend ‹amerikanisiert›. Nur was man zählen kann, existiert. Früher nannte man das Erbsenzählerei.» Die Beobachtung, dass es Dinge gibt, die über das Messbare hinausgehen und sich statistisch nicht erfassen lassen, werde nicht mehr zugelassen. «Naturwissenschaft und Mathematik stoßen aber an ihre Grenzen, wenn es um Bereiche wie Empathie, Seele, Bewusstheit oder Lebenserfüllung geht. Dabei sind dies doch die entscheidenden Bereiche für die geistige und weitgehend auch für die körperliche Gesundheit des Menschen. Der Weg zum Frieden mit sich selbst lässt sich nur in der intensiven Auseinandersetzung mit diesen Bereichen finden.»

 
 
Naturwissenschaft und Mathematik
stoßen an ihre Grenzen, wenn es um Bereiche wie Empathie, Seele, Bewusstheit oder Lebenserfüllung geht.
 
 

Der «ganze» Mensch

Schon zu seinen Studienzeiten stand für Jürg Theiler der Mensch in seiner Ganzheit im Zentrum des Interesses. Dabei fand er sich schnell in einer Außenseiterrolle. «Der Begriff Spiritualität – ich verstehe darunter das Erkennen des Geistigen, des vom Menschen universell Gedachten, des Qualitativen – war damals alles andere als aktuell. Die Denkrichtungen, die mich fasziniert haben, die ‹Frankfurter Schule›, Max Horkheimer, Theodor Adorno, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Jürgen Habermas, und der französische Existenzialismus, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus, sind ‹materialistisch›.» Die neoliberale Gegentendenz dazu fokussierte für Theiler zu einseitig auf der naturwissenschaftlich-kognitiven Denkweise. «Ich promovierte bei Professor Guy Kirsch, einem ‹Freigeist› an der Universität Freiburg in der Schweiz. Dessen damals neuer wissenschaftlicher Ansatz, ‹Neue Politische Ökonomie›, gab mir den Freiraum, zu versuchen, die sich konkurrenzierenden wissenschaftlichen Disziplinen und gegensätzlichen Erkenntnisweisen zu verbinden. Es ist mir damals noch nicht gelungen.»

 

Ganz sich selber sein

Die Basis des Friedens mit sich selbst sei – so Theiler – ein «ganz mit sich selber sein». Er kommt zurück auf das Bild vom Kapitän auf dem sinkenden Schiff: «Die Funktion des Kapitäns, auch auf einem sinkenden Schiff, ist es, ganz sich selber zu sein, egal ob das Schiff fährt oder sinkt und unabhängig vom Ausgang der Reise.» Oder, anders gesagt: «Es geht um das Sein in einer Funktion, nicht um das Erfüllen einer Funktion, es geht ums Leben, nicht ums Überleben.» Die Sehnsucht, ganzheitlich zu sein, wohne jedem Menschen inne. Ohne Erfüllung dieser Sehnsucht sei Friede mit sich selbst nicht möglich. «Anfänglich war auch ich mir dieser Zusammenhänge nicht bewusst», gesteht Theiler. Er versuchte, in seiner wirtschaftlichen Tätigkeit die Psychologie etwa für Marktforschung einzusetzen. «Wie sehr ich mit dieser Tätigkeit gegen meine eigene Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit verstieß, merkte ich erst, als es mir mein Körper signalisierte. Ich konnte zum Beispiel nicht mehr an Geschäftsessen teilnehmen, mein Magen rebellierte.» Durch Lektüre kam Theiler zur Psychologie von Carl Gustav Jung und dessen wichtigster Mitarbeiterin Marie-Louise von Franz. «Für mich war schlagartig klar, dass darin die Antworten liegen, nach denen ich suchte», erklärt Jürg Theiler. «Nur die Verbindung und Übereinstimmung von analytischer und hermeneutischer Betrachtungsweise ist ganzheitlich. Eine Psyche muss integral sein, wenn sie gesund sein will.»

 
Der Mensch ist das einzige
Lebewesen, das selbst
bestimmen kann, was und
wie es ist.
 
 

Bewusstheit

«Das Konstruktive und das Destruktive, das Richtige und das Falsche, die Wahrheit und die Täuschung sind Bestandteile der menschlichen Psyche, des Lebens. Sie sind in jeder Zelle des menschlichen Körpers angelegt», erklärt Theiler. «Man kann die Unterschiede aber nicht automatisch erkennen, es ist notwendig, dass man sich diese Informationen bewusst macht.» Der Mensch sei das einzige Lebewesen, das selbst bestimmen kann, was und wie es ist. «Ein Baum kann nicht wählen – er ist Esche, Buche, Tanne oder Eiche. Ebenso die Tiere: Ein Reh ist ein Reh, ein Fuchs ist ein Fuchs, sie leben so, wie es einem Reh oder einem Fuchs bestimmt ist.» Der Mensch aber habe Gestaltungsmöglichkeiten. Er könne ein Individualist sein oder sich dem Mainstream anpassen, ein Freidenker oder ein Dogmatiker, eine Künstlernatur oder ein Zahlenmensch, ein Asket oder ein Maßloser, ein Friedensapostel oder ein Terrorist, ein Sportler oder ein Bewegungsmuffel usw. «Sich dieser Gestaltungsräume bewusst zu werden und zu erkennen, auf welche Weise die Erfüllung des persönlichen Lebensplanes zu erlangen ist – das ist der Schlüssel zum Frieden mit sich selbst!» Dabei müsse man sich aber im Klaren darüber sein, dass die empathische Intelligenz, die wir auch Seele nennen, gegenüber den anderen «Steuerungsmechanismen» für das menschliche Verhalten einen schweren Stand hat. «Die empathische Intelligenz steht im Widerspruch zu Instinkt, Affekt und rationaler Intelligenz. Es braucht eine hohe Stufe der Achtsamkeit und der Bewusstheit, um die Seele gleichberechtigt in die Entscheidungsfindung mit einzubeziehen und ihr schließlich die Führung anzuvertrauen. Die instinktiven, affektiven und instrumentellen Intelligenzsysteme sind nach außen gerichtet. Sie verfolgen ihre Wünsche aktiv, notfalls mit Gewalt und Aggression, durch Zwang, Tausch und Täuschung, auf Distanz. Diese Intelligenzsysteme wollen gewinnen, besitzen, konsumieren, kopulieren, Lust, Genuss und Spaß haben, sich durchsetzen, erfolgreich sein, bewundert werden, sich organisieren, sich mitteilen, Familie und Sicherheit haben, effizient sein, manipulieren und kontrollieren. Sie wollen ‹nach oben› und täuschen dem Menschen vor, sein Leben finde Sinn und Erfüllung durch die Befriedigung der Wünsche in der Außenwelt und durch Dritte und machen diese verantwortlich, wenn die Wünsche nicht in Erfüllung gehen. Die empathische Intelligenz ist nach innen gerichtet. Sie versucht, die Gegensätze aufzulösen und die Teile zum ganzen System, zum ganzen Menschen, zur ganzen Psyche und zum ganzen Leben zu verbinden. Sie dient dem Leben. Sie stellt sich dem Schatten. Dafür geht sie ‹nach unten›.»

 
 
Die empathische Intelligenz steht im Widerspruch zu Instinkt, Affekt und rationaler Intelligenz.
 
 

Pistis – Agape – Elpis

«In der in griechischer Sprache geschriebenen Jesusgeschichte werden Pistis, Agape und Elpis als die drei bestimmenden Elemente eines erfüllten Lebens dargestellt. Pistis bedeutet wörtlich ‹sicheres Erkennen›, Agape heißt wörtlich ‹das Ausrichten der Wünsche an etwas›. ‹Etwas› ist das Systemziel, das Ganze. Es erfordert, alle Wünsche in Übereinstimmung zu bringen. Um die Gegensätze zwischen den Wünschen zu ertragen, bis sie durch die empathische Intelligenz, die Liebe, aufgelöst werden können, ist Elpis erforderlich. Elpis bedeutet ‹Vertrauen› – es ist das Vertrauen in die Wahrheit!» «Be the change that you want to see in the world», hat Mahatma Gandhi einmal gesagt – «sei du selbst die Veränderung, die du in der Welt sehen willst.» Jürg Theiler hat diese Aufforderung Gandhis nicht nur für sich selbst verinnerlicht. Er steht auch als Beispiel für das, was möglich wird, wenn ein Mensch auf dem Weg ist, unablässig und aus innerem Feuer heraus danach zu leben.

 

 

ANALYTISCH-HERMENEUTISCHE
PSYCHOLOGIE

Analytisch-hermeneutische Psychologie ist das Verstehen des Verstehens in sich selbst und in der Welt. Sie verbindet das Erkennen von innen mit dem Erkennen von außen. Sie erkennt das Leben als ein Informationssystem, das sich dem Menschen in Form von Wünschen und Funktionen (Zielen und Mitteln, Bedürfnissen und Ressourcen) unbewusst und automatisch oder bewusst eröffnet. Sie ist auf der Grundlage der von Carl Gustav Jung und Marie-Louise von Franz begründeten Analytischen Psychologie, der Humanistischen Psychologie, der Systemtheorie, der Mikro-, Neuro- und Entwicklungsbiologie, der Verhaltens- und Organisationspsychologie, der Ökonomie und Managementlehre, der Philosophie, Mythologie, bildenden Kunst, Musik und Dichtung gewachsen. «Psycho-Logie» bedeutet wörtlich «System des Lebens». Um das Leben als System zu verstehen und zu erfüllen, ist es erforderlich, dieses analytisch – von außen, rational, instrumentell, naturwissenschaftlich – und hermeneutisch – von innen, empathisch, seelisch, geistig, geisteswissenschaftlich, – zu betrachten und zu verstehen. Diese kompetitiven und gegensätzlichen Wahrnehmungs- und Entscheidungsweisen, zu denen die Instinkte und Affekte (Gefühle) stoßen - die Gegensätze im Innern der Psyche -, sind zu erkennen, zu verbinden und in Übereinstimmung zu bringen. Die Gegensätze sind aufzulösen. Das ist nur unter Führung der Seele, nicht aktiv, sondern rezeptiv möglich. Die Übereinstimmung ist die Voraussetzung, um das Leben zu erfüllen - um Heilung und Frieden zu finden.

Aktuelle Bücher:

  • Führung durch die Seele. Von der Zerstörung zur Erfüllung (2020)

  • Bewusstheit. Die Erfüllung Ihres Lebens (2013)

  • Liebe als Erfüllung aller Wünsche. Eine praktische Liebestherapie (2008)

  • Im Gleichgewicht der Wünsche. Wollen und Sollen in Übereinstimmung bringen (2006)

  • Dike oder die Kunst, das Richtige zu tun. Instinkt, Affekt und Verunft ins Gleichgewicht bringen (2000)

 
 
 

ZUR PERSON

Jürg Theiler hat an der Universität Freiburg, Schweiz, Nationalökonomie studiert und 1977 in «Neue Politische Ökonomie» promoviert. Nach einem Forschungsaufenthalt in den USA hat er als Manager und strategischer Planer in Marketing und Kommunikation für namhafte internationale Unternehmen und Agenturen und als Dozent an der FHNW, Hochschule für Wirtschaft, gearbeitet. Die Frage «Was will die Kundin/der Kunde», die er als Strategischer Planer zu beantworten hatte, aber auch seine eigenen, inneren Fragen, haben ihn zur Analytisch-hermeneutischen Psychologie geführt. Auf deren Grundlage wirkt Jürg Theiler als Berater und Begleiter, Analytiker, Forscher und Autor in Zürich.

 

 
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Die Nöte der Asylsuchenden ebenso ernst nehmen wie die Ängste der Einheimischen