Bildung neu gedacht

 
 
Susanne Tobler
Heilpädagogin, Schulentwicklerin «Monterana-Schule»
 
Fotografie: Raul Surace

Fotografie: Raul Surace

 

Bildung, die konsequent vom Kind ausgeht, befreit nicht nur die Kinder und deren Eltern vom Leistungs- und Konkurrenzdruck. Sie hat auch konstruktive Folgen für die Gesellschaft. Wer als Kind Respekt erfährt, lernt sich selbst, die anderen und die Natur zu respektieren. Wer in seiner Persönlichkeit gesehen und gefördert wird, entwickelt ein gesundes Selbstvertrauen, Kreativität und Handlungsfähigkeit – für ein reichhaltiges Leben und eine hoffnungsvolle Zukunft.

 
 

«DAS LEBEN LERNEN»

«Man braucht in der heutigen Informationsgesellschaft nicht mehr in die Schule zu gehen, um später lesen, schreiben und rechnen zu können. Die Schule müsste heutzutage dazu da sein, ‹das Leben› zu lernen», sagt Susanne Tobler. Seit zwanzig Jahren führt sie die Monterana-Schule, eine private Schule, die auf «selbstgestaltetes Lernen» setzt. Der Name Monterana geht zurück auf die italienische Ärztin und Pädagogin Maria Montessori (1870–1952) und auf den chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana (geb. 1928).

 

Die Basis der Arbeit bilden neben den eigenen Erfahrungen die grundlegenden Erkenntnisse, welche Maria Montessori in ihrer praktischen Arbeit mit Kindern gesammelt hat. Diese werden durch neueste Erkenntnisse aus verschiedenen Bereichen der heutigen Wissenschaften bestätigt. «Jeder Organismus erschafft sich selbst durch ständige Erneuerung und Umwandlung im Austausch mit der Umwelt. Die Veränderungen der inneren Strukturen, was beim Menschen Entwicklung und Lernen bedeutet, können von der Außenwelt nur angeregt, nicht aber bestimmt und kontrolliert werden», sagt sinngemäß Humberto Maturana. «Liebe ist die biologische Grundlage des sozialen Lebens.» «Unser Ort für selbstgestaltetes Lernen existiert seit zwanzig Jahren, erst in der Stadt St. Gallen, später in Degersheim», erzählt Susanne Tobler. Monterana ist ein Lebens- und Entwicklungsraum für Kinder und Jugendliche. Sie ist eine Schule in der ursprünglichen Wortbedeutung der alten Griechen: Ein Ort der Muße. Muße in der Bedeutung von «sich etwas zugemessen haben, Zeit, Raum, Gelegenheit haben, um etwas tun zu können (Duden)». Kinder und Jugendliche leben hier in einer großen, altersgemischten Gemeinschaft auf ihre ganz eigene Art. Sie bilden sich selber aus sich heraus in ihrem eigenen Rhythmus und ihrem Wesen gemäß im Zusammenwirken mit Erwachsenen, die sie dabei begleiten. Sie erhalten die Chance, eine umfassendere und reifere Form von Menschlichkeit zu entwickeln, als wir sie in unserer Gesellschaft gemeinhin erleben. Es begann 1994 in St. Gallen mit einem Kindergarten, 2002 erhielt die Monterana die Bewilligung für die Führung einer Primarschule, 2012 für die Oberstufe.

 
 
Es gibt LehrmeisterInnen und weiterführende Schulen, die das in den Monterana-Kindern steckende Potenzial begeistert nutzen und damit weiter entwickeln – andere sind skeptisch.
 
 

Kinder anders aufwachsen lassen

Ein längerer Aufenthalt in Ecuador stellte im Leben von Susanne Tobler die entscheidenden Weichen. «Ich erlebte einen Kulturschock. Meine Reaktion darauf war, dass ich mich engagieren will und muss, um etwas zu einer ‹besseren Welt› beizutragen», sagt sie. Doch wie ist aus diesem Schlüsselerlebnis die Idee zu einer anderen Art von Schule entstanden? «Erst im Nachhinein, als ich wieder zu Hause war, erkannte ich, dass dies ein ‹Friedensthema› ist. Ich fühlte mich mitschuldig: Es ist unsere Gesellschaft, welche andere ausbeutet und welche die Entstehung von Gewalt, Unterdrückung und Elend mitverursacht!» Gewaltformen seien immer Überlebensstrategien. «Mit Gewalt reagiert ein Mensch, wenn er etwas, das auf ihn zukommt oder dem er ausgesetzt ist, als lebensbedrohend empfindet. Da muss man ansetzen. Wir müssen die Gesellschaft von innen her verändern, und zwar (auch) hier bei uns in Europa! Ein Weg dahin ist, dass Kinder von Anfang an anders aufwachsen.»

 

Bewusster Umgang mit Konflikten

An ihrer Schule ist der bewusste Umgang mit Konflikten eine Basisstrategie. «Es gibt an unserer Schule keine Strafen, aber ganz klare Grenzen. Wenn Gewalt, körperlich oder psychisch, auftritt, gehen wir dazwischen. Wir achten darauf, allen Kindern bejahend zu begegnen und den gegenseitigen Respekt zu fördern. In einer vertrauensvollen und sicheren Umgebung wird es den Kindern möglich, persönliche und soziale Konflikte begleitet auszutragen und damit zu überwinden.» An der Monterana-Schule in Degersheim gibt es keinerlei Leistungsdruck, nur Lernangebote, an denen die Kinder freiwillig teilnehmen können. «Wenn ein Kind spielen will, dann darf es spielen, wenn es lernen will, ist das Angebot da. Wenn es keines von beidem will, kann es sich zurückziehen, etwas lesen oder Sport treiben.» Diese Philosophie erfordert von den Lehr- und Betreuungspersonen, aber nicht zuletzt auch von den Eltern, sehr viel Vertrauen und die Überzeugung, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist. Susanne Tobler erzählt von einem «Extremfall»: Sie hatten einmal einen Schüler, der während anderthalb Jahren kein einziges Mal am Unterricht teilnahm. «Die Eltern sahen sich mit der Situation konfrontiert, ein (nicht ausgesprochen geringes) Schulgeld zu bezahlen, ohne dass ihr Sohn sichtbar etwas lernte. Doch alle Beteiligten bewahrten die Geduld. Plötzlich begann sich der Junge für das Lernen zu interessieren, als er feststellte, dass seine gleichaltrigen ‹Gspändli› spannende Sachen konnten, von denen er nichts wusste. Innerhalb eines Dreivierteljahres hat der Junge den Stoff aufgeholt – ohne jeden Druck.»

 
 
Wir lassen die Kinder die verschiedenen Phasen der Bewusstseinsbildung voll ausleben.
 
 

Spiral Dynamics

Die Monterana-Schule folgt keiner bestimmten spirituellen Richtung. «Das ist bei uns nicht einmal ein Thema», sagt Susanne Tobler. Omnipräsent, weil als richtig erkannt, ist aber das von Don Beck und Chris Cowan erstmals vorgestellte, auf der Theorie von Clare W. Graves beruhende Prinzip, welches unter dem Namen «Spiral Dynamics» bekannt ist. Diese Theorie beschreibt verschiedene «Bewusstheitsstufen», die ein Mensch in seinem Leben durchläuft und die auch in der Bewusstheitsentwicklung der Menschheit als Ganzes eine Entsprechung finden. Je höher die Stufe, die erreicht wird, umso mehr wird sich ein Mensch nicht nur mit sich und seinen Ego-dominierten Bedürfnissen auseinandersetzen, sondern sich als Teil eines «großen Ganzen» verstehen, dem zu dienen ihm Antwort auf die Sinnfrage des menschlichen Lebens gibt. «Wir lassen die Kinder die verschiedenen Phasen der Bewusstseinsbildung voll ausleben und greifen nicht vor. Dies schafft die Grundlage dafür, dass sie ganz organisch in weitere Stufen hineinwachsen und ihr volles menschliches Potenzial entfalten.»

 

Der Schritt ins «reale Leben»

«So werden sich unsere SchülerInnen später auch außerhalb des ‹geschützten Raums› der Schule behaupten können», sagt Susanne Tobler. «Entscheidend ist eine sorgfältige Wahl der weiterführenden Bildungsstätte. Es gibt LehrmeisterInnen und weiterführende Schulen, die das in ‹unseren› Kindern steckende Potenzial begeistert nutzen und damit weiter entwickeln – andere sind skeptisch. Auch hier soll der Entscheid letztlich wieder beim Jugendlichen selber bleiben», erklärt sie. «Während einer ausreichenden Schnupper- bzw. Kennenlernzeit stellt sich heraus, was geeignet ist und was nicht.» Wichtig sei einfach, dass ein Kind bei Abschluss der Grundschulzeit eben nicht nur vom vorgeschriebenen Stoff etwas wisse, sondern auch «das Leben» gelernt habe. «Dann wird es in seinem Leben als Jugendliche(r) oder Erwachsene(r) mit neuen Herausforderungen kreativ umgehen können, und es hat das Potenzial, Großes zu bewirken», ist Susanne Tobler überzeugt.


MONTERANA – ORT FÜR SELBSTGESTALTETES LERNEN

 
 

DAS ZIEL

Kinder, Jugendliche und Erwachsene leben und lernen im Einklang mit ihrer inneren Natur und in offener Beziehung zu der sie begleitenden und umgebenden Welt. Sie kennen ihre Interessen und Gefühle, ihre Stärken und Schwächen, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten. Sie respektieren sich selber und andere und setzen sich ein für sich und für die Gemeinschaft.

 
 
 

DIE ERFAHRUNG

Kinder, Jugendliche und Erwachsene begegnen und erfahren sich in der Monterana als gleichwertige, eigenständige und jederzeit selbstverantwortliche Menschen. Sie werden in ihrer individuellen Wesensart wahrgenommen und respektiert. Sie bewegen sich frei und leben, spielen und lernen zusammen in einer anregenden Umgebung, die sie gemeinsam organisieren und gestalten. Die Kinder und Jugendlichen lernen auf ihre individuelle Art von ihren Vorbildern und durch die Herausforderungen der Wirklichkeit. Bei einem Wechsel in ein anderes Umfeld sind sie fähig, sich den neuen Herausforderungen zu stellen.

 
 
 

DIE BEWUSSTWERDUNG DER ERWACHSENEN

Die neue Sichtweise ist für jedes Kind von Natur aus eine Selbstverständlichkeit, für die meisten Erwachsenen jedoch eine Herausforderung. Sie wurden anders erzogen und haben ein anderes Welt- und Menschenbild aufgebaut. Vom Team und den Eltern braucht es Vertrauen und den Mut, sich mit den Erscheinungen des Lebens immer wieder neu auseinanderzusetzen. Der Blick wird auf die genau jetzt stattfindende Situation und die damit verbundenen Gefühle gerichtet. Bedenken und vorgefasste Meinungen werden hinterfragt, alltägliche Verhaltensmuster überprüft. Im Moment zu leben und authentisch zu sein ist primäres Ziel.

 
 
 

ENTWICKLUNGSSTUFEN IN DER KINDHEIT

Ken Wilber erkannte, dass die von Jean Gebser beschriebenen Entwicklungsstufen der Gesellschaft (siehe Anhang: «Was ist integral?») auch als Wachstumsphasen bei Kindern beobachtet werden können:

  1. Die archaische Bewusstseinsstruktur entspricht dem Säuglingsalter;

  2. die magische Bewusstseinsstruktur, der Beginn der Bewusstwerdung, entspricht dem Kleinkind;

  3. die mythische Bewusstseinsstruktur, in der die Welt in Gegensätzen erlebt wird, entspricht der Trotzphase und der Pubertät;

  4. die mentale Bewusstseinsstruktur, die Bewusstseinsebene des Verstandes, erwacht im jugendlichen Alter.

Literaturhinweise:

Don Beck, Christopher Cowan:
Spiral Dynamics – Leadership, Werte und Wandel.
ISBN 978-3-89901-107-4

Marion Küstenmacher, Tilmann Haberer, Werner Tiki Küstenmacher:
Gott 9.0: Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird.
ISBN 978-3-579-06546-5

 

 
 
 
Zurück
Zurück

Medizin zur Potenzialentfaltung

Weiter
Weiter

Die Politik der Bewusstheit