Frieden durch friedliche Mittel
Ostermarsch 2022
Rede von Lea Suter
18.04.2022
Was der Krieg mit uns macht
Liebe Friedensbewegte
Schön, sind Sie hier, schön, dass wir diesen wichtigen Tag gemeinsam verbringen.
Ich bin vor einigen Monaten eingeladen worden, an diesem Ostermontag zu sprechen. Heute denke ich, ich wäre lieber eingeladen worden zu schweigen. Zu schweigen angesichts der unermesslichen Leiden eines erneuten Kriegs. Zu schweigen vor dem Hintergrund des weltweiten Redeschwalls, in dem jeder jeden übertreffen will an Wichtigkeit, Schnelligkeit und Richtigkeit. Zu schweigen angesichts der verpassten Chancen, die wir die ganzen Jahre haben verstreichen lassen.
Unser Kopf ringt um Informationen, ringt um Positionen, ringt um die Lösung von Gleichungen mit zu vielen Variablen. Unser Herz ist betäubt von den Bildern aus den Medien, den sozialen Kanälen und den Erzählungen von Bekannten. Unser Körper ist gefesselt, wie in einem Albtraum, und wir warten auf den Schrei, der uns aufzuwecken vermag. Doch der kommt nicht. Wir sind gefangen zwischen dem Wissen-Müssen und dem Nichts-tun-Können. Zwischen Apathie und Helfersyndrom. Und bevor die Friedensbewegung zu sich kommt, sind Milliarden gesprochen für die Aufrüstung – im Namen des Friedens.
Ja, was bedeutet es heute, «Frieden mit friedlichen Mitteln», wie es Johan Galtung, die Koryphäe der Friedensforschung, formulierte, zu fordern und zu fördern?
Ich bin verwirrt
Da ich der westlichen Gesellschaft angehöre, sehe ich es als meine Aufgabe, die Friedensbemühungen des Westens unter die Lupe zu nehmen. Mit Blick auf die Ukraine sind einige Dinge sehr klar – andere weniger.
In dieser Zeit des Urteilens und Forderns erlaube ich mir zuerst einmal, meiner Verwirrung Ausdruck zu verleihen.
Klar ist:
Ein Angriffskrieg wie dieser ist (wie grundsätzlich jeder Krieg) zu verurteilen.
Die Verantwortlichen dieses Kriegs sind zu bestrafen.
Diese Kriegshandlungen sind zutiefst menschenverachtend und so schnell wie möglich zu beenden.
Die Betroffenen dieses Kriegs müssen bestmöglich geschützt werden.
Frieden fördern heisst, den Krieg klar zu verurteilen und nach Lösungen zur Beendung der Gewalt zu suchen. Die Herausforderung ist jedoch, wie wir friedensfördernd und konfliktsensitiv auf Krieg reagieren können und dabei unseren eigenen Werten treu bleiben. Immer wieder gilt es, aufmerksam zu prüfen, dass unsere Handlungen nicht von den eigenen Verletzungen geleitet sind, sondern vom Fokus auf die Wiederherstellung von friedlichen Beziehungen.
Doch tun wir das wirklich?
Ich bin verwirrt, wenn wir Gewaltfreiheit mit Gewalt verteidigen, wenn wir Frieden mit Krieg verteidigen, wenn wir inklusive Gesellschaften mit Exklusion, also Ausgrenzung verteidigen.
Ich bin verwirrt, wenn westliche Politiker zur Vernichtung eines Staatsoberhaupts aufrufen, um unsere humanitären Werte zu schützen.
Ich bin verwirrt über die Lust an der Zerstörung, über die Blutrünstigkeit und den Hass, die den öffentlichen Diskurs in unseren «friedlichen Ländern» prägen.
Ich bin verwirrt, dass wir plötzlich wieder über einen sinnvollen Tod sprechen und darüber, wofür es sich heroisch zu sterben lohnt: für die Demokratie zum Beispiel schon, für das Kalifat nicht.
Ich bin verwirrt darüber, wie ein Männerbild, von dem wir gehofft hatten, dass wir es überwunden haben, heute in neuer Frische glänzt: Man fühlt sich als richtiger Mann, wenn man die Guten gegen die Bösen verteidigt – mit Gewalt.
Und – da ich mich seit Langem mit den Gräueln von Kriegen beschäftige, bin ich zusätzlich verwirrt, wenn ich sehe, wie anders wir auf diesen Krieg reagieren, verglichen mit unserer Reaktion auf die anderen Dutzende Kriege und bewaffneten Konflikte weltweit – wir haben laut UNO-Generalsekretär Antonio Guterres zurzeit ein Rekordhoch an bewaffneten Konflikten seit Ende des 2. Weltkriegs. Wo ist unsere Empörung über die Gräueltaten in anderen Weltregionen? Und wo ist unsere Solidarität mit den 2 Mia. (!) von bewaffneten Konflikten betroffenen Menschen? Das ist ein Viertel der Weltbevölkerung! Es geht eine Art des Erwachens durch die Bevölkerung, als ob man sich daran erinnerte, dass Krieg hässlich ist. Haben wir das wirklich nicht mehr gewusst?
Und ich bin verwirrt, wenn ich höre, der Pazifismus habe versagt. Ja, er sei mitverantwortlich dafür, dass der Krieg in der Ukraine nicht verhindert wurde. Hat denn zum Beispiel der Bellizismus, die Aufrüstung, den Krieg verhindert?
Ich bin verwirrt, wenn ich die Genugtuung sehe, mit welcher man all jene, die sich für Dialog, gegenseitige Verständigung und Annäherung eingesetzt haben, öffentlich angreift oder lächerlich macht. Ich bin verwirrt über die Logik dahinter und über die Freude darüber.
Ist Frieden nicht ein gemeinsames Projekt?
Friedenshaltung
Der Frieden hat einen schweren Stand. In Zeiten des Friedens wird er belächelt, in Zeiten des Kriegs beschuldigt. Wer im Chor des Schwarz-Weiss nicht mitsingt, wer versucht ein differenzierteres Bild der Lage zu erstellen, wer an so etwas «Naives» wie «Frieden mit friedlichen Mitteln» glaubt, alle die geraten schnell ins Kreuzfeuer. Ihnen wird vorgeworfen, im besten Fall realitätsfern zu sein, im schlimmsten Fall mitschuldig am Tod unschuldiger Zivilist:innen, da nicht früher militärisch eingegriffen wurde. Sie werden gar als Komplizen des Aggressors, des Dämons, dargestellt.
Immer wieder aktuell ist also die Frage:
Was ist eine Friedenshaltung? Eine kohärente, umsetzbare Friedenshaltung – heute?
Der Kriegsmentalität standhalten
Beginnen wir mit dem, was eine Friedenshaltung nicht ist.
Durch die Ereignisse sind viele nicht nur durch das Leid der Betroffenen erschüttert, sondern fühlen sich selbst direkt oder indirekt bedroht. Zum einen durch eine drohende Eskalation in einen Nuklearkrieg, der uns alle direkt betreffen würde. Zum anderen, weil wir den Angriff auf die Ukraine als Angriff auf unsere Werte wahrnehmen. Die Verführung, nun in ein Verteidigungsdenken zu wechseln, ist gross. Ebenso die Verführung, sich von einer Schwarz-Weiss-Logik umgarnen zu lassen und Feindbilder oder nationalistische Konzepte zu bejubeln, zu deren Abbau wir seit Jahrzehnten aufrufen. Nicht zuletzt erleben wir auch die – durchaus süsse – Verführung, dass dieser gemeinsame Feind unsere Identität als Kollektiv stärken möge – alle gegen einen. Und schon ist es dem Krieg gelungen, uns seine Kriegsmentalität aufzuzwingen.
Was verstehe ich unter einer Kriegsmentalität und welche Friedenslogik können wir daraus entwickeln? Ich möchte folgende fünf Punkte festhalten:
1 - Die Komplexität aufzeigen und aushalten
Beginnen wir mit dem Klassiker. Wenn sich irgendwo Fronten bilden, ist das Erste, was wir verlieren, die Fähigkeit zu differenzieren. Das Bild vereinfacht sich, wir verfallen in ein polarisierendes Denken. Das können wir bei den Ansprachen von Politiker:innen und in den Medien feststellen, aber auch bei uns selbst. Unangenehmerweise entspricht diese Vereinfachung unserem Bedürfnis nach Klarheit und Kontrolle. Das ist das Verfängliche an der Kriegslogik, sie suggeriert, dass wir Antworten auf das Chaos und die Gewalt zu haben glauben, und sie gibt uns das gute, ja süchtig machende Gefühl, dass wir auf der richtigen Seite stehen.
Eine Friedenshaltung wehrt sich gegen diesen Drang zur Vereinfachung. Sie versucht ein maximal differenziertes, möglichst eigenständiges Bild und Narrativ der Lage zu entwickeln und immer wieder die Komplexität aufzuzeigen und auf Widersprüchlichkeiten hinzuweisen. Der Vereinfachung entgegenwirken könnte im aktuellen Kontext heissen, dass wir mit in Betracht ziehen, dass die Blockierung sämtlicher Formen des Geldtransfers nach Russland gerade auch Organisationen trifft, die Kinderheime führen, sich für Obdachlose einsetzen, psychologische Unterstützung für traumatisierte Menschen bieten und Personen in der totalen Armut beistehen. Also die Menschen, die ohnehin schon am meisten benachteiligt sind. Was im totalen Widerspruch ist mit dem Prinzip unserer eigenen internationalen Zusammenarbeit «Leave no one behind».
2 - Feindbilder dekonstruieren
Beginnt man einmal mit der Vereinfachung, ist es nicht mehr weit zur Polarisierung. Sehr schnell wird die Welt gespalten und in Gute und Böse aufgeteilt, das Böse ganz dem anderen zugeschrieben, das Gute gehört zu einem selbst. Beschäftigt man sich länger mit bewaffneten Konflikten, weiss man: Wenn der Krieg einmal da ist, gibt es keine Guten.
Unsere primäre Rolle als Friedensbefürworter ist nicht die Verurteilung einer Kriegspartei, sondern die Verurteilung des Kriegs, der Verurteilung aller Kriege und aller Mechanismen, die Krieg befördern. Das scheint womöglich eine feine Nuance, aber eine wichtige. Eine Friedenslogik stellt sich gegen Feindrhetorik, auch wenn sie gut verpackt daherkommt als Feinde der Demokratie». Sie stellt sich gegen Pauschalisierungen, z. B. die Diffamierung der Angehörigen einer der Kriegsparteien. Im aktuellen Kontext könnte dies heissen, wie dies die Koryphäe der Konfliktlösung, Friedrich Glasl, beschreibt, dass man Menschen mit Zugang zu russischen Akteuren nicht diffamiert und dämonisiert, sondern einbindet in eine Lösungsstrategie. In der Mediation nennen sich solche Menschen Konnektoren, also potenzielle Brückenbauer. Eine Friedenshaltung bedeutet, diesbezüglich immer wieder Spaltendes zu erkennen und zu überwinden, es bedeutet, dass wir einen sehr bedachten Umgang mit Sprache und Berichterstattung suchen und uns vehement gegen jede Form der Dämonisierung und Entmenschlichung stellen.
3 – Inklusive Lösungen suchen
Ein sehr einfaches und deutliches Zeichen, dass wir in die Kriegslogik abgedriftet sind, ist, wenn wir zur Überzeugung gelangen, dass der andere allein die Ursache des Problems ist und wir diesen anderen deshalb beseitigen müssen, um unser Ziel, z. B. eine Friedenslösung, erreichen zu können. Das höre ich immer wieder überall auf der Welt und ich halte es nach wie vor, respektive stärker denn je, für einen Irrweg. Das Denken in Kategorien von Siegern und Verlierern zeigt, dass wir den Glauben an die Kooperation aufgegeben haben. Die Putin-Häme ist ein Zeichen unserer (berechtigten) Empörung, unserer Hilfslosigkeit, unserer Verletzung. Sie ist nicht ein Zeichen unserer Friedfertigkeit.
Es muss uns gelingen, daran festzuhalten, dass der andere, der Aggressor, der «Feind», der Verbrecher Teil der Lösung ist. Die Schweizer Aussenpolitik hat sich immer wieder dadurch ausgewiesen, dass sie auch mit denen im Gespräch bleibt, die von gewissen Staaten als Terroristen bezeichnet werden. Ich halte das für den einzigen möglichen Aus-weg. Dialogverweigerung ist das Ende der Friedfertigkeit. Länder aus UN-Organen auszuschliessen, widerspricht diametral der Grundidee der UNO, mit der wir einen Ort schaffen wollten, wo Länder miteinander sprechen, auch – und gerade wenn –sie sich uneinig sind oder im schlimmsten Fall sogar im Krieg miteinander stehen.
4 - Aus der Bedrohungsspirale ausbrechen
Die Bedrohungsspirale ist der Grundtreiber einer Eskalation. Ich fühle mich bedroht, deshalb muss ich mich verteidigen. Durch meine Verteidigung fühlt sich das Gegenüber wiederum bedroht und muss sich selbst stärker verteidigen. Dadurch gewinnt niemand an Sicherheit, es profitieren einzig jene, die die Mittel für diese «Verteidigung» liefern.
Eine wichtige Leitlinie einer Friedenshaltung wäre, dass die Verteidigung nur so lange dem Ziel des Friedens dienen kann, wie sie nicht als Bedrohung für andere wahrgenommen wird. Ziel ist es, den gut erforschten Mechanismen der Eskalation maximal entgegenzuwirken. Das heisst, dass wir nicht mit dem Verteidigungsinstinkt reagieren, sondern, wenn immer möglich, aktiv Formate ins Spiel bringen, die zum Wiederaufbau von Verständnis und Vertrauen beitragen. Eine Friedenshaltung könnte auch dazu einladen, nicht beim anderen, sondern bei sich selbst zu beginnen. Also zu prüfen, ob wir unseren Handlungsspielraum maximal ausnutzen und ja – warum nicht – selbst als Erste:r die eigenen Versäumnisse eingestehen.
Wichtig scheint mir, dass wenn der Begriff Sicherheit fällt, wir uns bewusst sind, dass Sicherheit zwar ein Grundbedürfnis ist. Es ist aber auch eine Ideologie. Eine Ideologie mit einem enormen Zerstörungspotenzial. Eine Ideologie, die sich von Angst und Krisen ernährt und diese also für das eigene Überleben braucht. Wir sind gefordert, die beiden Funktionen, also Sicherheit als Grundbedürfnis und Sicherheit als Ideologie, vorsichtig voneinander zu unterscheiden und mit einer Friedenshaltung, die Angst abbaut, entgegenzuwirken.
5 – Verurteilungen meiden und konfliktsensitiv handeln
Es ist tief in unserem System verankert, urteilen und verurteilen zu wollen und auch zu müssen. Einzuordnen, wer Recht hat und wer nicht, wer Täter ist und wer Opfer. Es ist unbestritten, dass die Verletzung der Grundrechte, wie wir sie aktuell in der Ukraine sehen, ein schwerwiegendes Verbrechen ist. Und Täter:innen ebenso wie diejenigen, die sie finanzieren oder anderweitig unterstützen, gehören verurteilt. Dafür haben wir auch nach Kriegsende noch genug Zeit. Denn es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass gerade, während der Krieg und/oder Verhandlungen noch im Gange sind, Verurteilungen, auch wenn sie rechtlich richtig sind, hauptsächlich zu Verhärtungen und nicht zur Annäherung der Parteien führen.
Deshalb sind ein konfliktsensitives Kommunizieren und Handeln absolut zentral. Hilfreich sind dabei nicht Fragen wie «Wer hat recht?», sondern «Was führt zum Ende der Kampfhandlungen, zur Verhandlungsbereitschaft aller Parteien und zur maximalen Schadenminderung aller Seiten?» Entlang dieser Fragen sollten wir uns bei all unseren Handlungen leiten lassen. Ob es darum geht, Sanktionen zu beschliessen, den Flugverkehr einzustellen oder Berichterstattung zum Kriegsgeschehen zu machen, die Erfahrung der Konfliktlösung zeigt, dass die Gesichtswahrung aller Kriegsparteien eine Grundvoraussetzung für den Einstieg in und den Abschluss von haltbaren Verhandlungslösungen ist. Besonders kritisch sehe ich in diesem Zusammenhang die Demütigung eines Staatschefs oder eines Landes. Die Demütigung einer Konfliktpartei hatte immer wieder extrem gravierende Folgen. So schwer das zuweilen sein mag, sollten wir uns immer wieder auf die Dinge fokussieren, die es uns ermöglichen, den Gewaltkreislauf zu durchbrechen.
Frieden als permanenter Auftrag
Eine Friedenshaltung ist – Sie haben es gemerkt – etwas Anstrengendes, etwas, um das wir kämpfen müssen, um das wir ringen mit all dem, was uns umgibt, und dem, was in uns selbst wütet.
Und – Frieden will permanent gestiftet werden, schrieb schon der Philosoph Immanuel Kant. «Nie wieder!», hiess es noch bei unseren Eltern oder Grosseltern. Lange Zeit ist von dieser Angst vor Krieg und dem daraus folgenden Willen und Engagement für Frieden bei uns kaum etwas zu spüren gewesen. Die Friedensbewegung ist weltweit zurückgegangen, und gerade auch in der Schweiz haben wir uns auf unserem 40 000 km2 kleinen Frieden ausgeruht, einem Frieden, den wir – so glauben wir – selbst errungen hätten und der uns garantiert bliebe.
Tatsächlich ist mit dem Krieg in der Ukraine so etwas wie ein Friedensbewusstsein in unsere Gesellschaften zurückgekehrt. Auf der einen Seite freut mich das sehr, weil ich ein solches Bewusstsein sehr vermisst habe. Auf der anderen Seite aber ist es absolut unverständlich und zutiefst bedauerlich, dass zuerst ein so verheerender Krieg ausbrechen musste, um das Bewusstsein in unserer Gesellschaft dafür zu wecken, dass Kriege abscheulich sind und dass Frieden höchst komplex und zerbrechlich ist. Ich dachte, wir hätten dafür genug Beispiele zur Verfügung gehabt in unserer eigenen Vergangenheit oder in den Dutzenden anderer bewaffneter aktueller Konflikte.
Liebe Friedensbewegte, ich glaube, dass eine Friedensbewegung sich nicht aus Kriegen nähren sollte. Daran nährt sich nur eine Sicherheitsideologie. Eine Friedensbewegung würde es auch dann brauchen, wenn – was für eine schöne Vorstellung – der Krieg schon überwunden wäre. Beim Forum für Friedenskultur setzen wir uns für eine aktiv gelebte Friedenskultur in der Schweiz ein. Dabei verstehen wir Frieden als einen kollektiven Dauerauftrag, der alle Lebensbereiche durchdringt, also die Schulen, die Medien, die Wirtschaft, den öffentlichen Raum usw. Wir wollen der Friedensperspektive, gemeinsam mit Ihnen allen, mehr Sichtbarkeit verschaffen. Und wir bieten Raum, um Friedenskompetenzen zu üben und Friedensfragen zu diskutieren, zum Beispiel am Ilanzer Sommer, den wir diesen August zum zweiten Mal durchführen werden.
Meine Wünsche an die Welt
Welche konkreten Vorschläge lassen sich aus diesem Konzept der Friedenshaltung ableiten? Hier ein Auszug aus meiner um ein Vielfaches längeren Wunschliste.
Konkret mit Blick auf die Ukraine
Im Zusammenhang mit der Ukraine brauchen wir (entsprechend dem 10-Punkte-Programm der Initiative Mediation Support) ein dezidiertes Vertrauen in Mechanismen und Instrumente der friedlichen Konfliktlösung, z. B. Verhandlungen. Die Solidarität Europas sollte darin bestehen, dass wir alles daransetzen, dass eine Lösung auf Verhandlungsebene gefunden wird.
Neben den Gesprächen zwischen der Ukraine und Russland sind zusätzliche Foren notwendig, um den Konflikt in seiner Komplexität lösen zu können. Um sich auf zentrale Anliegen einigen zu können, müssen diejenigen Parteien involviert werden, die diese Anliegen auch tatsächlich gewähren können.
Wenn sich Drittstaaten für Sanktionen entscheiden, dann sollten diese an konkrete Bedingungen gebunden sein (z. B. welche Sanktionen bei Waffenstillstand aufgehoben werden, welche bei einem Abkommen), ansonsten drohen sie eher zu eskalieren und Positionen zu verhärten, als Anreiz für die Konfliktparteien zu schaffen, sich in die Richtung zu bewegen, die wir uns wünschen.
Auf internationaler Ebene:
Ich wünsche mir viel mehr Frauen in Friedensverhandlungen und in der Sicherheitspolitik. Frauen, die nicht eine bellizistische Politik verfolgen, sondern auf eine pazifistische Politik vertrauen, entgegen dem System, das in die andere Richtung drängt.
Ich wünsche mir eine massive Verschiebung von Ressourcen von der militärischen autonomen Verteidigung in vertrauensbildende und friedenserhaltende Massnahmen und in andere dringlich notwendige Massnahmen, z. B. zur Eindämmung der Klimaerwärmung.
Ich wünsche mir eine Geldordnung und ein Wirtschaftssystem, die Frieden und Gerechtigkeit fördern.
Ich wünsche mir mehr Bewusstheit für eigene blinde Flecken in unserer Weltsicht, in unserer Berichterstattung und in unseren politischen Entscheidungen.
Auf nationaler Ebene, als Schweizerin:
Ich wünsche mir eine mutige Schweiz, die ihren ganzen Handlungsspielraum nutzt, um das Blutvergiessen in der Ukraine und anderswo zu beenden, und die ihre Beziehungen zu allen involvierten Konfliktparteien maximal pflegt und nutzt.
Ich wünsche mir, dass Menschen, die aus Kriegsgebieten geflüchtet sind, gleichwertig behandelt werden, unabhängig von ihrer Herkunft.
Ich wünsche mir eine kohärente Friedenspolitik, die z. B. die Unterzeichnung des TPNW/Kernwaffenverbotsvertrags beinhaltet und die die Finanzierung von Kriegsgeschäften durch Pensionskassengelder verbietet. Friedensaussenpolitik ist Friedensinnenpolitik.
Ich wünsche mir eine ernsthafte Finanzierung, Priorisierung und Umsetzung von Friedenspädagogik im Schweizer Schulsystem.
Ich wünsche mir eine Dialog-Architektur, die uns hilft, mit Spannungen innerhalb unserer eigenen Gesellschaft konstruktiv umzugehen.
Auf individueller Ebene, schliesslich:
wünsche ich uns, dass wir immer wieder die Bewusstheit und die Wachheit aufbringen, um aus dem Kreislauf der Gewalt auszubrechen und das Zerstörerische auch in uns selbst zu überwinden. Oder wie der Theologe und Pazifist Eugen Drewerman sagt, «die Fähigkeit, das Böse zu überlieben …».
Was schon für uns schwierig ist, ist noch endlos viel schwieriger für Menschen, die tiefgreifende Verletzungen etwa durch Krieg erlebt haben. Aber – es ist möglich. Ich durfte auf meinen Reisen in Konfliktgebiete, die ich für meine Friedensreportagen aufsuche, immer und immer wieder erleben, wie Menschen auch nach schlimmsten Formen der Verletzung und sogar nach überlebtem Genozid einen Ausweg finden aus der Gewaltspirale. Diese Menschen finden die Erlösung nicht durch Richten, Rächen und Hassen, sondern durch das Vergeben und/oder das Wiederherstellen von Beziehungen. Es sind Menschen, die eine unvorstellbare innere Kraft aufbringen, um auf diejenigen zuzugehen, die mitverantwortlich sind (oder gemacht werden) am Tod ihrer nächsten Angehörigen, die mitverantwortlich sind an ihrem eigenen lebenslänglichen Leid. Diese Kraft wünsche ich uns allen im Kleinen wie im Grossen.
Ich habe kürzlich ein Interview mit einer sehr bekannten russischen Schauspielerin gesehen. Sie war in Tränen aufgelöst über die Ereignisse in der Ukraine. Viele Russ:innen, das verlieren wir manchmal aus dem Blick, haben Freunde und Verwandte in der Ukraine, sie haben vielleicht selbst dort gelebt, studiert oder gearbeitet, sodass sie an der jetzigen Situation doppelt leiden im Vergleich mit uns. Weil sie nicht nur um die Angehörigen bangen oder deren Tod zu verkraften haben, sondern sich gleichzeitig als Angehörige Russlands für die von ihrer Armee verübten Gewalttaten schuldig fühlen. Die genannte Person ist eine von vielen, die den Mut aufbringen, die russische Invasion öffentlich zu kritisieren, auch wenn dies, wie wir wissen, höchst unangenehme Konsequenzen haben kann, aktuell spricht man von 15 Jahren Haft. Das Gespräch endet mit der Frage, ob die ukrainische Bevölkerung der russischen Bevölkerung je verzeihen werde. Worauf sie antwortet: «Nein, niemals!», und auch sie werde es den Russen (also sich selbst) nicht verzeihen. Im Kommentar antwortet darauf eine junge Frau aus Kiew, die dem Horror der militärischen Besetzung täglich mit Leib und Leben ausgesetzt ist: «Ich empfinde keinen Hass, weder Russland noch der russischen Bevölkerung gegenüber. Weder jetzt noch in Zukunft.» Es folgen noch einige Zeilen. Dahinter steht ein rotes Herz.
Das war etwas vom Wichtigsten, was ich seit dem Beginn der Invasion gelesen habe. Es sind Worte von Menschen, die ihre Menschlichkeit bewahren. Menschen, die nicht mitgehen mit dem Sog der Gewalt, auch wenn sie sich in den menschenwidrigsten Lebenssituationen befinden oder durch ihre Kritik an der Gewalt sich selbst in Gefahr bringen. Und ich denke, wenn es dieser den Gräueln des Kriegs ausgesetzten Frau gelingt, ihre Friedenshaltung in sich zu bewahren, dann sollte es auch uns gelingen.
Schluss
Liebe Friedensbewegte, wir sind zusammengekommen, um den Frieden zu fordern und uns gegenseitig zu einer aktiven Friedenshaltung zu ermutigen.
Friedenshaltung heisst nicht, alte Philosophen aus den Archiven zu ziehen, fixe Glaubenssätze zu repetieren und auf alles eine Antwort zu haben. Frieden ist kein Schönwetterprogramm.
Friedenshaltung ist
das permanente Ringen um den maximal möglichen Frieden, ein Kampf, für den viele Menschen weltweit immer wieder ihr Leben riskieren oder verlieren.
Friedenshaltung meint die Zuversicht, dass Frieden möglich ist und dass wir an Frieden glauben trotz aller Rückschläge, trotz aller neuen und andauernden Kriege. Und dass wir ihn mit allen uns zur Verfügung stehenden Kräften anziehen: mit unseren Gedanken, mit unseren Herzen, mit unseren Taten und mit unserem Sein.
Frieden lässt sich nicht erzwingen. Vielmehr verstehe ich Frieden als Lebewesen. Weder eine Blume noch ein kleines Kind müssen wir in die Grösse ziehen, damit sie wachsen. Sie wachsen aus sich selbst heraus. Unsere Aufgabe ist somit weniger das Schaffen von Frieden als ein solches Wachsen-Lassen. Nicht durch Passivität, sondern durch die aktive Pflege der Umstände, in denen er gedeihen kann.
In dem Sinne lasst uns – wo immer wir sind - Raum schaffen für Frieden, in unseren Köpfen und Herzen, in unseren Familien, in unseren Quartierstrassen, in unseren Unternehmen und unseren Parlamenten. Damit der Friede bei uns einkehren möge, sich bei uns niederlässt, bei uns gedeiht, Wurzeln schlägt und von hier ausstrahlt zu all jenen Menschen, die es gerade am meisten brauchen.
Vielen Dank!