Anders denken lernen
Natalie Knapp,
Dr. phil., Philosophin, Buchautorin
Ohne es selbst wahrzunehmen, haben wir nur auf eine bestimmte Art zu denken gelernt. So stoßen wir immer wieder an Grenzen. Wie lässt sich das alte Korsett unseres Weltbildes abstreifen, wie lernen wir anders denken? Heute brauchen wir diese Fähigkeit. Wir brauchen neue Lösungen für eine sich rasch verändernde Welt.
«DENKEN BEGINNT DORT, WO ICH ETWAS ALS ETWAS ERKENNE»
«Denken heisst: Wahrnehmungen ordnen», sagt Natalie Knapp. «Fühlen, wahrnehmen und denken sind ganz eng miteinander verwoben!» Als sie begann, sich mit den verschiedenen Möglichkeiten des Denkens zu befassen, war «neues Denken» noch kein Schlagwort. Das hat sich geändert. Deshalb spricht Natalie Knapp jetzt lieber von «anders denken». «Der Mensch tendiert dazu, in Mustern zu denken und zu leben. Wenn sich die Welt ändert, passt die Realität nicht mehr zu den eingefahrenen Mustern.»
Der Wahn vom Wirtschaftswachstum
Natalie Knapp illustriert dies mit dem verbreiteten Glauben, Wohlstand für alle lasse sich durch Wirtschaftswachstum erzielen: «Das Wirtschaftswachstum hat uns in der Vergangenheit tatsächlich enormen Wohlstand gebracht. Seit 1950 hat aber die Weltbevölkerung von 2,5 auf 7 Milliarden Menschen zugenommen – und dies bei ständig wachsendem Ressourcenverbrauch pro Kopf. Sieben Milliarden Menschen, die essen, sich anziehen, wohnen müssen! Der Mythos vom Wohlstand für alle durch endloses Wirtschaftswachstum ist seither völlig unrealistisch geworden. Die Meere sind überfischt, die Wälder werden abgeholzt, die Böden sind verseucht.» Die Fakten zu diesen Zusammenhängen liegen hunderttausendfach auf dem Tisch. Da wäre es logisch, dass sich das Denken ändern muss, wenn sich die Ausgangslage derart drastisch verändert hat. Trotzdem denkt und handelt die Menschheit nicht neu. «Das ist eher ein emotionales Problem als ein biologisches oder eines des mangelnden technischen Sachverstandes», ist Natalie Knapp überzeugt. «Die Menschen suchen gar nicht nach neuen Lösungen, weil sie sich nicht vorstellen können, dass eine Idee, mit der sie so gut gelebt haben, plötzlich falsch sein soll. Das ist eine ganz paradoxe Situation, denn diese ‹emotionale Wiederholungsschleife› hält uns im Gefängnis der Vergangenheit fest, während wir die Erfordernisse der Gegenwart verschlafen. Wir neigen zur Verteidigung der ‹gewohnten Geschichte›. Hier können nur starke Vorbilder helfen, die uns andere Erfahrungen ermöglichen. Menschen, die uns zeigen, dass unser Glück nicht von der Steigerung des Konsums abhängt.»
Querdenkerin
«Ich war schon als Kind in der Schule eher eine ‹Querdenkerin›, aber ganz unbewusst», erzählt Natalie Knapp. «Vieles, was da vermittelt wurde, schien mir einfach nicht relevant zu sein.» Ihre erste Begegnung mit der Philosophie von Martin Heidegger verursachte ihr Herzklopfen. «Diese Texte haben mich auf eine ganz andere Art angesprochen, als ich es gewohnt war.» Eine starke Motivation bei ihr, zur Implikation eines anderen Denkens in der Welt beizutragen, ist Trauer: «Es macht mich traurig, zu sehen, was alles kaputt geht und in welchem Tempo. Und es macht mich traurig und wütend, zu sehen, wie ein großer Teil der Menschen auf diesem Planeten behandelt wird.» Das Gebot der Zeit sei ein «menschlicher Lebensstil». Und der könne gar nicht anders sein als «viel einfacher». Für alles andere würden uns schlicht und einfach die Ressourcen fehlen, meint die Philosophin und Buchautorin. «Es gibt heute noch vereinzelt Kulturen, die stark vom Gemeinsinn her leben. In diese Kunst des Zusammenlebens muss sich der sogenannte ‹hoch entwickelte Teil der Welt› jetzt einüben.»
Lebendigkeit
«Wir brauchen nicht ‹vegetierende und konsumierende› Menschen, sondern lebendige. Lebendigkeit beginnt, wenn man anfängt, sich selbst ernst zu nehmen. Was berührt mich in der Tiefe, und wie will ich wirklich leben? Der Soziologe Hartmut Rosa nennt diesen lebendigen Kontakt mit der Welt ‹Resonanz›.» Interessiert an einem anderen Denken seien denn auch in erster Linie Menschen mit einem starken Bezug zur Natur, zur Kunst oder Musik. Menschen, für die eine erfüllte Zeit oder tragende Beziehungen wichtiger seien als Konsum, und solche, die nicht allzu stark in Traditionen und Routine verhaftet seien. Die Frage, die Natalie Knapp am stärksten bewegt: «Was motiviert Menschen dazu, ihr Denken und Handeln zu verändern?» Sie sei oft fassungslos, wenn sie erkennen müsse, wie achtlos wir mit uns selbst, miteinander und mit der Welt umgehen. «Obwohl die globale Vernetzung heute Tatsache ist und wir mit einem irrsinnigen Tempo der Rückkoppelung leben, ignorieren viele Menschen die Fakten zur Situation unseres Planeten.» Die Lernphase, welche die Menschheit diesbezüglich zu durchleben habe, sei so intensiv wie sonst eigentlich nur während der Lebensphase der Jugend. Doch für diesen Lernprozess seien viele Menschen noch immer nicht bereit. «Schon 1972 hat der ‹Club of Rome› seine Studie zu den Grenzen des Wachstums vorgestellt. Die meisten Prognosen haben sich bestätigt. Niemand kann heute noch behaupten, diese Fakten nicht zu kennen», hält Natalie Knapp fest. «Trotzdem ist es nicht raumgreifend zu einem neuen, anderen Denken und Handeln gekommen.» Damit sich etwas ändere, komme es auch darauf an, wie sich jede und jeder Einzelne im Alltag verhält. Niemand müsse die Welt retten, aber jeder könne einen ersten Schritt tun. «Allein das Wissen, dass die eigene Sicht auf die Welt notwendigerweise begrenzt ist und dass wir die Begegnung mit anderen Menschen, Lebensweisen, Religionen oder Kulturen dringend brauchen, hilft weiter. Dann stolpern wir nicht immer wieder über die eigenen blinden Flecken. Wir sind dann eher in der Lage, eine Meinungsverschiedenheit als Chance zu begreifen oder eine andere Kultur als Bereicherung anstatt als Bedrohung.»
«Glaub nicht alles, was du denkst!»
«Dieser Satz zieht mir immer wieder den Boden unter den Füßen weg», sagt Natalie Knapp. «Aber darum geht es ja gerade – die eigenen festgefahrenen Meinungen infrage zu stellen. Wenn wir diesen Satz ernsthaft beherzigen, haben wir einen echten Beitrag für eine offenere Kultur geleistet. Nicht immer schon Bescheid zu wissen. Eine große Frage offen lassen zu können und sie nicht vorschnell gegen eine kleine Antwort einzutauschen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens oder die Frage, was man persönlich tun kann, um die eigene Würde nicht zu verletzen und die Würde anderer Menschen zu schützen. Die Frage, in welcher Welt wir leben wollen und wie wir uns jetzt verhalten müssen, damit diese Welt entstehen kann. Mit diesen großen Fragen muss man sich gemeinsam auf die Suche machen, man kann sie nicht mal eben abschließend beantworten.»